Vor nur einem Jahrhundert hatte Musik für die Armenier eine ganz andere Bedeutung als heute. Für die große Mehrheit der armenischen Bevölkerung war Musik nicht Inhalt zu intellektuellem Austausch, sondern Bestandteil der Natur des Menschen. Selbst Stadtbewohner, trotz ihrer abweichenden Gewohnheiten, gebildete Menschen, Gelehrte und der Klerus hatten einen Gutteil dieses Wesens aufrechterhalten, was in dem von ihnen gepflegten liturgischen Gesang zum Ausdruck kam. Der liturgische Gesang war nämlich, trotz seiner Doktrin, seiner musikalischen Theorie und anderer ihm eigenen Regeln, letztlich nichts anderes als ein gesungenes Gebet und somit natürliche Ausdrucksform der Menschen, die einem Volk angehörten, das keine Gelegenheit ungenutzt ließ, um zu singen.
Während die Sänger der Provinz Koghthen feierlich den Gesang “Der Himmel kommt nieder” anstimmten, um die Geburt des Gottes Vahakn zu preisen, kamen die Apostel Thaddäus und Bartholomäus laut der Überlieferung in diese Gegend und säten dort den guten Samen. Bis Anfang des 4. Jh. das Christentum zur Staatsreligion erklärt wurde, hatte dieses Volk von Sägern schon einen Teil seines musikalischen Erbes den Psalmen angepasst und mündlich weitergegeben.
Der eigentliche Beginn einer wirklichen Überlieferung des liturgischen Gesanges sollte mit der Schaffung des armenischen Alphabets Anfang des 5.Jh. stattfinden. Die ersten Gesänge, deren Text, anstatt das Evangelium wiederzugeben, die Emotionen ausdrückt, die es weckt, werden dem Heiligen Mesrob Machdots zugeschrieben, der unter großen Schwierigkeiten, die Buchstaben geschaffen hatte, sowie Sahag Barthev, dem Katholikos dieser Zeit. Dass die Entstehung des liturgischen Gesanges mit diesen beiden Figuren in Verbindung gebracht wird, ist bezeichnend: Das gesungene Gebet sollte seinen Platz zwischen Emotion und Dogma einnehmen. Die Gelehrten als Mittler schufen eine enge Beziehung zur Schrift und blieben jedoch gleichzeitig mit den Melodien der mündlichen Überlieferung in Verbindung.
In den folgenden Jahrhunderten nahm die Zahl der Feste, der Riten und folglich auch der Gesänge zu. Die Armenier trugen sich noch nicht mit dem Gedanken Pergament für ihre Musik zu benutzen, als sich im 7. Jh der Reichtum des Repertoires eines Tages als katastrophal erweisen sollte. Anlässlich des Festes der Transfiguration hatte sich eine Menge von Geistlichen aus unterschiedlichen Gegenden eingefunden, auch der Katholikos nahm aus diesem Anlass am Stundengebet teil. Alles ging seinen geregelten Lauf, als plötzlich einer der Chöre den Patrum anstimmte, das einer Reihe von Gesängen entnommen ist, und das als Inspirationsquelle das Lied des Azaria hat. Der andere Chor, der zwar dem Melodietypus treu blieb, antwortete mit einem Vers eines anderen Gesangs, denn die Sänger kannten den betreffenden Gesang nicht. So sangen die beiden Chöre im Wechsel acht Verse, jeder aus einem anderen Gesang, aus einer anderen Region. Daraufhin beschloss der Katholikos eine erste Auswahl aus den Kirchengesängen zu treffen, die dann in allen Diözesen Großarmeniens gesungen werden mussten.
Diese frühe Sammlung von Gesängen war auch zugleich ein erster Schritt zur Organisation des musikalischen Elements der Riten. Da diese keineswegs abgeschlossen waren, entwickelte sich das Repertoire weiter fort. Der Kanon der Festtage etablierte sich allmählich endgültig und wurde mit neuen Gesängen bereichert. Auf diese Weise entstand eine Verbindung zwischen dem traditionellen Gesang und der Schrift. Zudem sollten gelehrte Geistliche fortan in ihren Kommentaren oder diversen anderen Schriften die Natur der Gesänge und deren Vortragsweise untersuchen. Manchmal hielten sie es für notwendig daran zu erinnern, dass der betreffende Gesang nichts anderes als ein gesungenes Gebet war. Diese gelehrten Geistlichen waren jedoch selbst Musiker; man nannte sie Philosophen. Bei den Armeniern durfte sich nur derjenige Philosoph nennen, der in dieser so hoch geachteten Kunst versiert war.
Die Chronisten sollten später schreiben, dass die Klassifizierung der Melodietypen in acht Modi (Oktoecho) aus dem 8. Jh. stammt, die Zeitgenossen jedoch äußerten sich dazu nicht. Im Übrigen wollte kein Philosoph seine Kreativität auf acht etablierte Modi beschränken. Dies setzt sich bis in unser Jahrhundert fort, so dass wir heute ca. zwanzig verschiedene Modi vorfinden, die alle ihren Platz innerhalb der acht kanonischen Modi finden: Ein Beispiel der Kombination von Emotion und Dogma. Die gesungenen Gebete des 8. Jh. waren von zwei Frauen geprägt: Sahagatukhd und Khosrovitukhd (wobei tukhd lediglich « Tochter des » bedeutet). Erstere lehrte Musik hinter einem Vorhang in einer Höhle, in die sie sich zurückgezogen hatte. Einer ihrer der Jungfrau gewidmeten Gesänge, ist uns überliefert. Die zweite, die aus einer Gegend namens Koghthen stammt, die für ihre Sänger berühmt ist, hatte einen Prinzen zum Bruder, der im Alter von vier Jahren in Damaskus gefangen genommen wurde. Als junger Mann, kehrte er zu den Seinen zurück und nahm deren Religion an. Er wurde enthauptet, worauf Khosrovirtukhd eine Ode komponierte, die bis in die heutige Zeit gesungen wird. Die Schrift spielte hier nur für Kommentare und Klassifizierungen eine Rolle. Im Laufe des 9. Jh. sollten die Prämissen für eine Neumenschrift gelegt werden. Wir wissen heute auf Grundlage von in den Einbänden gefundenen handschriftlichen Fragmenten, dass der Gebrauch von Interpunktion, Intonation und anderen Anhaltspunkten zur Ausführung der Musik, bei den Armeniern zeitgleich mit den Byzantinern und Latinern begonnen hat.
Diese Entwicklung fand in einer Zeit statt, als das armenische Königreich nach vier Jahrhunderten Unterbrechung wieder zu neuer Blüte gelangt war. Im Laufe des 8. und 9. Jh, zu Beginn der armenischen Renaissance, entstehen neue Formen des liturgischen Gesangs. Während der Großteil der gesungenen Gebete sich auf traditionelle Melodietypen gründete, benutzten diese neuen Formen eigene Melodien, sie sind melismatischer, ausgedehnter und haben mehr Verzierungen. Das Aufkommen dieser Großformen ist im Zusammenhang mit der Entstehung des Mystizismus in diesem Teil der Welt zu sehen. Krikor von Narek sollte mit an Visionen reichen, gesungenen Gebeten ebenfalls zur Bereicherung der Musik seiner Zeit beitragen. Die berühmte Stadt Ani mit ihrer “1001 Kirche” sollte im 11. Jh einigen Musiker-Philosophen als Inspirationsquelle dienen. Zahlreiche Melodietypen benutzende Gesänge wurden in den Kanon aufgenommen und in den Kirchen ertönten neu komponierte melismatische Gesänge. Uns ist aus dieser Zeit unter anderem das Stabat Mater eines unbekannten Komponisten überliefert. Im Laufe des 11. Jh entwickelt sich die Neumenschrift weiter fort, bleibt jedoch lediglich ein Hilfssystem. Im Laufe desselben Jahrhunderts schreibt Boghos von Daron schließlich, dass die Melodietypen mittels derer die Geistlichen und andere Gelehrte Emotionen und Glauben zum Ausdruck bringen, Scharagan genannt werden. Schriftgelehrte erklärten, dass Schar-agan (Anreihung von Juwelen) bedeute. Später haben Sprachwissenschaftler diese Erklärung verworfen, jedoch umsonst: Alle glaubten daran. Die Gesänge heißen bis heute Scharagan, die Armenier streiten sich jedoch nicht mehr über den Ursprung des Wortes.
Die Zeit des Königreiches von Kilikien (1187-1375) und die unmittelbar vorangehende Epoche waren sowohl für die neuen Gesänge als auch für Schriften zur Musik sehr fruchtbar. Gesungene Gebete drangen immer weiter in die Seelen der Gelehrten vor, nicht nur der Kleriker. Der Klerus war jedoch der Ansicht, dass diese Liebe zum Gesang zu viel Platz einnahm und Unordnung in das gesungene Gebet brachte. Umso mehr als es in Zeiten des Wohlstandes um die Entwicklung der musikalischen Schöpfung besonders günstig bestellt war, was den liturgischen Gesang seiner eigentlichen Funktion entfremdete. Der Katholikos Nerses Schnorhali (1110-1173) sah sich gezwungen in einer Enzyklika folgenden Rat auszusprechen: “Geht mit den heiligen Worten der Gebete nicht um wie das Wasser, das durch ein Rohr fließt, egal ob es sich um Psalmodie, Lesungen, um Gebete der Offizien oder der Heiligen Liturgie handelt, sondern tut als entsprängen sie im selben Moment eurem Geist und euren Herzen.” Der Heilige Nerses Schnorhali schrieb zahlreiche von Psalmen inspirierte gesungene Gebete, er schrieb eines für die Wächter der Burgen, um ihren “Lärm in Grenzen zu halten”, wie ein Geschichtsschreiber berichtet.
Zur Zeit des Kilikischen Königreiches erfuhr die Neumenschrift eine beispiellose Entwicklung. Das System bestand weiterhin, für einen Teil des Repertoires, in kurzen, an die Vorsänger gerichteten Hinweisen, die die Melodietypen schon kannten, auf denen die einfachen Gesänge beruhten. Die melismatischen, neuen Gesänge jedoch bedurften, da man sie von nun an aufschrieb, einer adäquaten Notierung. Dutzende von Neumen konnten einer einzigen Silbe entsprechen und die Kenntis der Melodietypen war nun nicht mehr ausreichend. Spezifischer Unterricht in der Neumenschrift war fortan für all diejenigen unumgänglich, die diese Gebete singen wollten, denn das Risiko den roten Faden zu verlieren, war zu groß. Zur Regierungszeit Levons II (1187-1219) verfasste ein gewisser Krikor, genannt der Taube, Scharagan. Es heisst, dass man ihn so nannte, weil er sich die Ohren mit Wachs verschloss, um sich vor vulgären Melodien zu schützen. Jedoch erfüllte er seine Aufgabe so gut, dass seine Version mehrere Jahrhunderte lang in ganz Armenien kopiert wurde. Krikor hatte die verschiedensten Melodien mit der Neumenschrift in Übereinstimmung gebracht, was zur Aufgabe von Gelehrten geworden war.
Im folgenden Jahrhundert erschienen die ersten Autorenlisten der Scharagan. Über diese Listen, deren Zusammenstellung hochsymbolisch ist, ist in der heutigen Zeit, in der zwar viel geschrieben, aber wenig gesungen wird, schon viel gestritten worden.
Zur selben Zeit entwickelten die unterschiedlichen Regionen Armeniens ihre eigene musikalische Tradition, die jedoch in unterschiedlichem Ausmaß von der Entwicklung des kilikischen gesungenen Gebetes beeinflusst war. Im 14. Jahrhundert erreichte die Neumenschrift höchste Elaboriertheit und Komplexität. Sie war keine absolute Sprache, sondern eine Fachsprache, die der Notwendigkeit einer besonderen Musik entsprach, einer Familie bestimmter Melodietypen. Sie war deshalb nur denen zugänglich, die mit dieser Art von Musik bereits vertraut waren, was allein durch mündliche Überlieferung möglich war. Ein gesundes Gleichgewicht zwischen mündlicher Überlieferung und Neumenschrift stellte sich ein.
Obwohl in armenischen Gebieten nie lange Frieden herrschte, hat das gesungene Gebet seinen gewohnten Lauf genommen und ist in den Klöstern weitergegeben worden. Zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert notierten die Schreiber immer öfter in ihren Betrachtungen am Ende einer Kopie, dass diese Schrift in “bitteren und schändlichen Zeiten” fertig gestellt worden sei. Parallel dazu begann für das gesungene armenische Gebet ein neuer Prozess, der durch den allmählichen Rückgang der Weitergabe der Neumenschrift gekennzeichnet ist, was zur Folge hatte, dass eine zunehmende Zahl melismatischer Gesänge auswendig gelernt werden musste, eine wahre Herausforderung für diese Menschen, die so gerne sangen. Im 15. Jahrhundert wollte ein Geistlicher und Philosoph, namens Ghougas von Keghi den liturgischen Gesang reformieren. Er war der Ansicht, dass Riten und Gesänge zu lang waren (er war wohl ein Vorläufer des modernen Menschen) und dass die neue Generation der alten, nicht gewachsen war. Er verfasste also die Scharagan neu: er schuf Kurzversionen und entsprechende neue Melodien. Er dachte, dass eine solche Reform helfen würde, damit das gesungene Gebet die Umwälzungen im Land überstand. Die Reform wurde nicht akzeptiert und die neue Version so endgültig verbannt, dass außer dem Zitat des Chronisten davon heute nichts mehr erhalten ist. Das 17. Jahrhundert zeichnet sich durch die Zunahme der Tätigkeit in Klöstern aus, was jedoch den liturgischen Gesang angeht, kehren Geistliche und Vorsänger zu den althergebrachten Gewohnheiten zurück, sie schreiben viel weniger und setzen den Gesang in der gewohnten Art und Weise fort. Eine Scharakansammlung in Neumenschrift wurde erstmals 1665 in Amsterdam gedruckt. Verschiedene Versionen desselben Buches wurden mehr als zwei Jahrhunderte lang gedruckt. Das 18. Jahrhundert stellt einen Wendepunkt dar, da die viel beschworenen fremden Einflüsse, die die Armenier bei jeder Gelegenheit erwähnen sich zu dieser Zeit intensivierten. In Konstantinopel hatte sich eine tätige Gemeinschaft mit ihren Kirchen gebildet, dort erklang das gesungene Gebet ununterbrochen. Gleichzeitig war die Herausbildung der osmanischen Musik abgeschlossen und begann sich auszubreiten. So entstand im gesungenen Gebet ein für den Einfluss fremder Melodien geeignetes Milieu, was den natürlichen Prozess der wechselseitigen Beeinflussung aus dem Gleichgewicht brachte. Die ausschlaggebende Bedeutung, die man heute dem 18. und 19. Jahrhundert zuschreibt, steht in tiefem Zusammenhang mit dem Fehlen von Informationen die musikalischen Traditionen der armenischen Klöster betreffend und dem Mangel an Interesse der Intellektuellen der Zeit.
Während der gesamten Geschichte des armenischen liturgischen Gesanges existierten einige musikalische Zentren außerhalb des Landes, wo die ursprüngliche Tradition weitergeführt wurde: In Jerusalem z.B., wo die Armenier seit Menschengedenken sangen, in Caffa, auf der Krim (dem heutigen Feodosia), wurden musikalische Handschriften seit dem 15. Jahrhundert kopiert. Im 18. Jahrhundert kamen andere Zentren hinzu: Die Stadt Neu-Djulfa im Iran, das Mekhitaristenkloster in Venedig und nicht zu vergessen Konstantinopel, wo der liturgische Gesang auf Gedeih und Verderb seinen Ursprung nehmen sollte.
Jahrhunderts verschwand eine Reihe der melismatischen Gesänge, vornehmlich aufgrund von Unkenntnis der Neumenschrift. Einige berühmte Vorsänger wandelten manche dieser Gesänge ab und passten sie dem Geschmack der Zeit an, den man heute als osmanisch bezeichnet. Von Anfang des 19. Jahrhunderts an, war der liturgische Gesang fest mit Konstantinopel verknüpft, weil sich 1812 dort etwas Wichtiges ereignen sollte: Die Schaffung einer neuen Notenschrift. Sie war das Werk von vier armenischen Musikern römisch-katholischer Konfession, von denen sich jeder in einem anderen Bereich der Musik auskannte. Die Sorge um die Zukunft des armenischen liturgischen Gesanges hatte sie um diese Aufgabe versammelt. Diese radikale, späte Lösung des Problems stieß auf vehementen Widerstand der ordinierten Vorsänger. Sie verteidigten instinktiv ihre Tradition gegen eine rigide moderne Notenschrift und die damit verbundenen Restriktionen. Sie brauchten jedoch noch Zeit, um herauszufinden, wie weit sich ihr musikalisches Milieu von den dem gesungenen Gebet inhärenten Regeln entfernt hatte. Demgemäß hielt sich die neue Notenschrift ungefähr 30 Jahre lang im Abseits des musikalischen Lebens. In der Zwischenzeit entwickelten die Vorsänger in Konstantinopel eine gewisse Geschicklichkeit in der Improvisation und die originellsten Melodien der Klöster Armeniens wurden auch die verletzlichsten.
Einem der Schöpfer der neuen armenischen Notenschrift, Hampartzoum Limondjian gelang es schließlich, dank seiner Ernennung zum Musiklehrer der Mutterkirche des Patriarchats, den Gebrauch des neuen Systems einzuführen. Einige seiner Schüler wurden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gründer der Erneuerung des armenischen liturgischen Gesangs. Jetzt nahm das Zeitalter der Transkription der Melodien und eine lang währende, hitzige Diskussion über den Zustand des liturgischen Gesangs und die Originalität der weitergegebenen Melodien seinen Anfang. Die Transkriptionen wurden von berühmten Meister-Vorsängern vorgenommen und es ging darum, eine endgültige Version, vor allem für die Scharakan zu erarbeiten, die sich durch ihr Alter und ihre repräsentative Bedeutung im Zentrum der Debatte befanden. Die Wertschätzung, die das musikalische Milieu Konstantinopels während dieser Zeit seinen eigenen Traditionen entgegenbrachte, war der Grund, aus dem die musikalischen Überlieferungen der Klöster im Inneren des Landes vernachlässigt wurden. Fast alle diese Klöster sollten am Anfang des 20. Jahrhunderts zerstört werden und von der Erdoberfläche verschwinden.
Ein Großteil der Transkription der bedeutsameren liturgischen Gesänge wurde zwischen 1874 und 1880 in Vagharschapat (ehemaliger Name der Stadt, wo sich heute Etschmiadzin befindet), dank der Bemühungen von Katholikos Kevork des IV, der seine musikalische Ausbildung in der Mutterkirche des Patriarchats von Konstantinopel erhalten hatte, veröffentlicht. Andere Transkriptionen, alle in der neuen Notenschrift, wurden in den kommenden 50 Jahren veröffentlicht, während derer die ordinierten Vorsänger sich allmählich an den Gedanken transkribierter Gesänge gewöhnten. Die mündliche Tradition blieb jedoch intakt und die Vorsänger benutzten diese Überlieferung ausschließlich für die melismatischen Melodien. In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gibt es in der armenischen Presse eine Flut von Artikeln, die sich alle mit der Frage nach der Originalität der Melodien beschäftigen. Unzählige Persönlichkeiten, von denen nicht alle Sänger waren, befassten sich mit dem Thema, weil zu dieser Zeit die westliche klassische Musik in armenischen intellektuellen Milieus sehr in Mode gekommen war. Philosophen jedoch, die in der Lage waren, nicht nur eine Melodie zu singen, sondern auch ihre Gedanken zum Thema zu äußern, wurden immer seltener. Sie waren zum Glück enthusiastisch genug, eine rege Diskussion zu führen und uns durch ihre Artikel in der Presse wertvolle Informationen zu übermitteln.
Die letzten Jahre des Jahrhunderts brachten noch mehr Neues, denn die Polyphonie und der Gebrauch des Harmoniums hielten endgültig Eingang in die mehrstimmig gesungene Heilige Liturgie der Kirche Armeniens. Die Diskussion wurde nur noch hitziger und einige amüsante Beschreibungen der mehrstimmig gesungenen heiligen Liturgie füllten die Seiten der armenischen Zeitungen.
Nach diesen bewegten Jahren machten sich jedoch die Auswirkungen der Verwestlichung bei den traditionellen Vorsängern bemerkbar und es wurde zur Gewohnheit, mehrstimmige Chöre zu hören. Die Auseinandersetzung um diese Fragen aber füllte weiterhin zahlreiche Seiten in der Presse. 1910 kam Vater Gomidas nach Konstantinopel und vereinte dreihundert junge Leute in einem Chor. Ihm wurde ein Teil seines aus liturgischen Gesängen bestehenden Konzertprogramms verboten und die armenische Presse ereiferte sich erneut. Dies war die letzte Episode des Konfliktes zwischen Konservativen und Progressiven. Einige Jahre später schrieb man schon das Jahr 1915. Der armenische liturgische Gesang fand danach allmählich wieder seinen über ein Jahrtausend alten Weg und nahm dieses Mal mehrstimmige melodische Versionen in sein Repertoire auf, die seitdem unter den neuen Bedingungen in der Diaspora gängiger geworden sind. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gelang es den Meister-Vorsängern mehr schlecht als recht, ihr Wissen weiterzugeben; wenn das Erbe, das heute ordinierte Vorsängergruppen innehaben, auch einige stilistische Mängel aufweist, ist es doch durchtränkt von einer aufrichtigen Wahrnehmung der Rituale und in der Lage die Treue der Armenier dem gesungenen Gebet gegenüber auch während der kommenden Jahrhunderte zu wahren.
Heutzutage wird das Stundengebet in der Diaspora auch weiterhin in traditioneller Weise gesungen, vor allem im Nahen Osten, ein wenig in Europa, gelegentlich in Amerika und in Armenien; diese Tatsache ist den Armeniern im Allgemeinen nicht bekannt. Sie haben im Laufe der Jahre ihren Zeitplan geändert, was das Singen angeht, nicht so der liturgische Gesang, der weiterhin am frühen Morgen stattfindet.
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